Ich male meine Alltagsmaske. Bloss ein bisschen schwarz um die Augen.
Das reicht, denke ich. Das müde Morgengesicht, das zuvor aus dem Spiegel
zurückgestarrt hat, ist beinahe verschwunden. Ich schenke mir ein
Lächeln und prüfe, ob es glücklich wirkt. Den Rest müssen sie nicht
wissen. Schicht für Schicht lege ich die Masken übereinander.
Zwei braune Augen schauen zurück. Ich mag meine Augen. Papas Augen. Mama
sagte immer, sie habe die Augen meiner Grossmutter. Ich kann nicht
nachprüfen, ob es stimmt. Grossmama war tot, bevor mein Herz zu schlagen
begann. Die Nase etwas zu breit. Die Stirn zu eckig, das Kinn zu rund.
Es ist nur die Oberfläche, sage ich zu mir und wende mich ab.
Ich, 26, Amateurtänzerin, Freizeitkünstlerin, Nachteule und
Alleinreiserin. So solltet ihr mich sehen. Die Realität entsteht in
euren Köpfen, denke ich. Nur wenn ihr daran glaubt, ist es wahr.
Ich überzeuge mich davon, dass das Leben schön ist. Schön sein muss.
Denn es ist kurz. Man sollte glücklich sein. Meistens zumindest, sage
ich zu mir, als ich aus dem Bus steige und die Strasse überquere. Ich
werfe im Vorbeigehen einen Blick ins Schaufenster von Coop und frage
mich, was ihr denkt, wenn ihr mir entgegenkommt. Glaubt ihr mein
Lächeln?
Maria, 60, Pflegeassistentin. Ich gleiche meiner Mutter, auch wenn ich
nie wie sie sein wollte. Ich könnte mir vorstellen, dass die anderen
denken, nicht schlecht gehalten für 60 Jahre.
Josephine, 24, stellvertretende Geschäftsleiterin. Wenn ich unsicher bin
reagiere ich oft kalt, ich glaube, das lässt mich eingebildet wirken.
Thomas, 54, Heizungstechniker. Morgens schaue ich in den Spiegel und
hoffe, dass es ein guter Tag wird. Ich weiss nicht, ob mir mein Gesicht
gefällt, ich habe noch nie darüber nachgedacht.
Die Haustür fällt hinter mir ins Schloss. Delet Layer one, sage ich zu
mir und schüttle den Kopf darüber, dass mich die Sprache des
Grafikprogramms bis hierher verfolgt. Egal, denke ich und lasse mein
Alltagsgesicht fallen. Heute brauche ich es nicht mehr. Ich bin hier,
rufe ich. Es bleibt still. Niemand da. Aus dem Spiegel neben dem
Kleiderständer schaut ein müdes Gesicht zurück. Mias Schuhe liegen im
Eingang verstreut. Ich schiebe sie mit ein paar Fusstritten zur Seite
und schüttle den Kopf über das sich stetig ausbreitende Chaos.
Mia, 23, Hundetrainerin. Vermutlich denken die Leute, die mir auf der
Strasse begegnen, die könnte mehr aus sich machen. Tu ich auch.
Manchmal.
Fabian, 32, Doktorand BWL. An meinem Gesicht mag ich nicht, dass meine linke Gesichtshälfte von der rechten abweicht.
Tessa, 25, Forschungslaborantin. Meine Lippen wurden einfach richtig
gemacht, sie gefallen mir. Klar, bin ich eitel, aber das ist ja wohl
jeder.
Mit meinen Finger streiche ich über den Stapel Bücher auf meinem
Schreibtisch, der darauf wartet von dir abgeholt zu werden. Ich blicke
auf die Spuren, die meine Fingerspitzen in der feinen Staubschicht
hinterlassen haben. Als du gingst, sagtest du, du hättest dir das mit
uns anders vorgestellt. Ich dachte, ja ich mir auch. Ich hätte dich
belogen, sagtest du und ich denke, dass dies nicht stimmt. Ich hatte
nichts gesagt, weil ich dachte, es wäre nicht wichtig. Jetzt bist du weg
und auf deinen Büchern wächst Staub.
Ich mochte die Frau, zu der ich wurde, wenn du bei mir warst. Doch sie
ist mit dir gegangen, als du deine Bücher bei mir zurückliesst. Ich
vermisse sie und ich vermisse dich.
Bitte lächeln, sage ich zu meinem Spiegelbild. Ich nehme den Schal vom
Haken und schlüpfe in meine Jacke. Los, befehle ich mir, du weisst
genau, dass es dir danach besser geht.
Ich höre ihr Lachen schon im Treppenhaus, als ich zu Ralfs Dachwohnung
hinaufsteige. Bestimmt schon wieder Nudelauflauf, denke ich. Ralf
schwört auf Take-away und auf das italienische Nudelrezept seiner Nonna.
Tamara, 31, Bühnenmalerin. Ich schminke mich nie. Ich kann es nicht und bräuchte zu viel Zeit dafür.
Ralf, 25, Journalist und DJ. Am Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue,
frage ich mich, wieso ich keine richtige Frisur habe. Ich mag meinen
Bart und die dichten Augenbrauen.
Christoph, 29, Assistenzarzt. Mein Äusseres ist mir nicht egal. Es würde
mich beispielsweise demoralisieren übergewichtig zu sein. Ich will aber
unter keinen Umständen, dass man mir meine Eitelkeit ansieht.
Wir öffnen eine weiter Flasche Wein; folgen unseren Gedankenfetzen, die
sich mühelos aneinanderreihen und wie Tänzerinnen durch den Raum
schweben. Freundschaft ist, wenn man die Innenseite nach aussen kehren
kann. Ich erinnere mich daran, wie ich dieses Zitat im Gymnasium in mein
Heft gemalt habe.
Während die Strassen langsam still werden, sitze ich mit Ralf noch immer
vor unseren inzwischen leeren Weingläsern. Einige dunkelrote Flecken
zieren das türkisblaue Tischtuch. Tamara und Christoph sind bereits vor
Stunden gegangen. Was ist, wenn wir Maske um Maske abgelegt haben, frage
ich ihn. Was liegt hinter der letzten Schicht? Er zuckt die Schultern.
Ich stelle mir die Frage noch einmal, als ich später im Bett liege;
frage mich, was du dazu gesagt hättest. Nichts vermutlich, flüstere ich,
und lasse mich in das schwarze Vakuum des Schlafs fallen.